Mittelalter (Jahre 1291-1500)
Vor langer, langer Zeit... So könnte unsere Erzählung über die Geschichte des Rathausturms von Świdnica beginnen. Denn der Zeitraum, in dem der Turm entstanden ist, liegt, wie auch die Ursprung unserer Stadt, Anfang des 13. Jahrhunderts. Leider sind Informationen aus dieser Zeit, die das älteste Gebäude Świdnicas betreffen, sehr knapp und unsicher. Erhaltene schriftliche Quellen gibt es nur wenige, und wenn sind sie lakonisch und können unsere Neugier und unseren Wissensdurst nicht befriedigen. Unser Wissen über den Rathausturm beruht daher größtenteils auf dem Vergleich zu Ergebnissen aus archäologischen Forschungen in Bezug auf Charakteristika mittelalterlicher städtischer Gebäude in Niederschlesien an an anderen Objekten dieser Art.
Wir können unsere Geschichte im Jahr 1291 beginnen, aus dem die erste Erwähnung über das gemauerte sogenannte Haus der Kaufmannschaft stammt. Dieses Haus stand mitten auf dem Ring, wo sich sich das Handelsleben der Stadt konzentrierte. Es erfüllte noch vor dem Bau des Rathauses eine amtliche Funktionen für aus der Kaufmannschaft stammende Mitglieder des Stadtrates.
Dennoch war das Haus der Kaufmannschaft, bestehend aus einem Dutzend Verkaufskammern, die auf beiden Seiten der breiten Passage in dem zentralen Teil des späteren Innen-Markt-Blocks lagen, nicht das erste gemauerte Gebäude am Ring. Wie die archäologische Forschungen der letzten Jahre gezeigt haben, befand sich dieses erste gemauerte Objekt, das Rathaus, neben dem Rathausturm. Es stand in der Mitte des späteren Innen-Markt-Blocks, neben dem breiten Übergang in der Ost-West-Achse und über dem zu ihm senkrechten Übergang auf der Nord-Süd-Achse, die durch das Tor im Erdgeschoss des Turmes lief. Es ist nicht auszuschließen, dass der Turm das erste Objekt von dem gesamten Gründung (Einrichtung) war. Die Gründung die gemauerte Verkaufskammer im Laufe der nachfolgenden Jahre umfasste, die quasi von der Ost- und West- Seite an den Turm „angeklebt” waren und das erwähnte Haus der Kaufmannschaft gebildet haben.
Vermutlich sind der Turm und das Haus der Kaufmannschaft an Stelle der älteren, hölzernen Tuchhallen entstanden, wie wir es aus einem erhaltenen Dokument von Heinrichs IV. Herzog von Breslau aus dem Jahre 1285 schließen können.
Der Bau des Backsteinturms und kurz darauf anderer Backsteinbauten im zentralen Punkt der Stadt beweisen eine zügige Entwicklung, sowohl in Bezug auf den Handel in Świdnica, als auch auf die damit verbundenen Bedürfnisse des städtischen, immer reicheren Mittelstandes. Daher kann man das Nutzen des Turmes nicht auf einzelne Funktionen beschränken. Aufgrund seiner Höhe konnte man von ihm aus die ganze Stadt und ihre unmittelbare Umgebung überblicken, sodass militärische Gefahren und die in mittelalterlichen Städten so oft auftretenden Brände frühzeitig entdeckt werden konnten. Er stellte gleichfalls einen Orientierungspunkt für die nach Świdnica ziehenden Händler und Reisende dar und durch eine später auf dem Turm angebrachte Uhr wurde das Leben der städtischen Gemeinschaft geregelt. Das Gebäude erfüllte jedoch auch eine repräsentative Funktion, als Zeugnis des Wohlstands der Städter und der Unabhängigkeit der lokalen Selbstverwaltung.
Wie der erste Turm in der Geschichte der Stadt wohl ausgesehen haben mag? Leider können wir diesbezüglich nur raten. Das Gebäude hat eine Grundfläche von 7,5 x 7,5 Metern und ist auf ein mit Kalkmörtel gebundenes Fundament aus Granitblöcken gesetzt. Wir wissen nicht, wie hoch die ein Meter dicken Mauern waren. Der Turm war zumindest deutlich niedriger als das, was die ältere Generation der Swidnitzer noch aus der Zeit vor dem Zusammenbruch des Turmes im Jahre 1967 in Erinnerung hatte. Es ist zudem nicht sicher, ob er von vorne ganz aus Backsteinen errichtet wurde, oder ob die oberen Teile, die wahrscheinlich mit einem einfachen vierseitigen Dach versehen waren, ursprünglich als Fachwerk errichtet worden. Da das gesamte Erdgeschoss des Turms mit dem Nord-Süd-Achsen-Durchgang des Innen-Markt-Blocks belegt war, befand sich der Eingang zum Turm wahrscheinlich im ersten Stock, zu dem eine hölzerne Veranda führte. Im Inneren des Turmes war weiterer vertikaler Austausch möglich.
Es verging ein halbes Jahrhundert. Lange Zeit, und obwohl sich in erhaltenen schriftlichen Quellen keine Informationen über den Rathausturm finden lassen, scheint es sicher zu sein, dass dieser das Schicksal der Stadt geteilt hat. Es ist anzunehmen, dass er während dieser Zeit einiger Umbaumaßnahmen unterzogen wurde, die großen Feuer, die die Stadt heimsuchten, wie z.B. das von 1313, welches unter der gesamten städtischen Bebauung nur die Pfarrkirche verschonte, werden entsprechende Reparaturen nötig gemacht haben.
Eine erste schriftliche Erwähnung des Rathausturms findet sich zum ersten Mal im Jahre 1336. In dem aus diesem Jahr stammenden Statut der swidnitzer Kaufmannschaft ist die Information enthalten, dass die Hersteller von Geldbeuteln, Gürteln etc. ihre Produkte "Undir DEME Turm", also „unter dem Turm" führen konnten.
Die Swidnitzer sollten sich nicht lange an ihrem Turm erfreuen können. Es begann eine fast hundertjährige Unglücksperiode. Chroniken, in denen die Niederschriften über den Rathausturm erhalten sind, geben unterschiedliche Zeitpunkte an, wann genau der erste Turm zerstört wurde. Die Spanne der angegebenen Daten beträgt über 30 Jahre, aber jede von den drei erhaltenen Schriftstücken schildert das Brennen des Gebäudes mit seinem vergoldeten Dach. Dies bedeutet, dass der Turm bei einem der aufeinanderfolgenden Brände in den Jahren 1361, 1389 und 1393 zerstört worden sein muss. Auf einen Fehler in den Chroniken scheint die Tatsache hinzudeuten, dass die beiden letzten Brände am gleichen Tag, dem Barholomäustag (24. August), notiert worden. Dass zufällig zwei Großbrände an diesem Tag stattfanden, wirkt sehr unwahrscheinlich. Wie auch immer, spätestens im Jahre 1393 hatten die Swidnitzer das "Prachtstück" ihrer Stadt verloren. Verzweifelt wegen der großen Katastrophe werden die Bürger wohl so schnell wie möglich mit dem Wiederaufbau des Turms begonnen haben. Vielleicht hat man in diesem Zug die nächste Etage des Turms in Form eines Oktogons (Achteck) angebaut und ihn mit acht vergoldeten Statuen der Herrscher des Herzogtums zu Schweidnitz und Jauer und der tschechischen Könige und Kaiser aus dem Hause Luxemburg geschmückt.
Der „Fluch des roten Hahns“ (Brandfluch) schien über der Stadt zu liegen; die folgenden großen Brände, die die Innenstadt von Świdnica in den Jahren 1406 und 1420 verwüsteten, haben sicherlich den Prozess des Wiederaufbaus verlangsamt. Dies könnte ein Grund dafür sein, dass historische Quellen erst im Jahre 1450 von der Wiederherstellung des Turmes berichten und zum ersten Mal eine etwas detaillierter Beschreibung seines Aussehens liefern. Der Turm hatte seine Höhe fast verdoppelt und wahrscheinlich rund 40 Meter erreicht, weil auf seinen quadratischen Stamm weitere Geschosse in Oktogonform gebaut wurden, welche mit einer scharfkantigen Dachabdeckung aus Kupfer und Blei gekrönt waren. Am höheren Teil des Turms befand sich eine schöne geschnitzte Balustrade und weiter unten eine Uhr. Ein Beispiel, wie die äußeren Verzierungen des Turms ausgesehen haben mögen, gibt uns der zur selben Zeit entstandene Rathausturm in Jawor (Jauer), den man fast als Zwillingsturm zu seinem swidnitzer Gegenstück bezeichnen kann und bei dem die angebrachten Figuren bis zum heutigen Tag erhalten geblieben sind. Die Uhr war nicht dieselbe, die schon vor der Zerstörung des Turms an seiner Außenwand angebracht gewesen war. Ein Chronist schrieb im Jahre 1393 die Information über die Zerstörung der Uhr, „die niemand im ganzen Land hatte“, nieder. Dies kann auch darauf hindeuten, dass der Turm schon Ende des 14. Jahrhunderts einen Anbau in Oktogonform hatte, wenngleich dieser wohl nicht so prächtig wie der nach dem Wiederaufbau 1450 gewesen sein wird.